Deutsche Adipositas-Gesellschaft zum Welt-Adipositas-Tag am 04.03.2020

Deutsche Adipositas-Gesellschaft zum Welt-Adipositas-Tag am 04.03.2020

„Adipositastherapie muss Regelleistung der Krankenkassen werden!“

München, den 04. März 2020 Menschen mit schwerem Übergewicht (Adipositas) werden für ihre chronische Krankheit fortgesetzt diskriminiert und beschämt. Selbst medizinische Behandler, Entscheider im Gesundheitswesen und Politiker verstehen oft nicht oder wollen es nicht wahrhaben, dass Adipositas eine chronische Krankheit ist. Betroffenen wird oft ein Mangel an Willenskraft unterstellt, Trägheit oder die Weigerung, scheinbar naheliegende „Lösungen“ umzusetzen: „weniger essen, mehr bewegen“. Aber wie bei allen chronischen Erkrankungen sind die Ursachen komplex und reichen viel tiefer; sie können genetisch, psychologisch, soziokulturell, ökonomisch und umweltbedingt sein – häufig kommen viele Faktoren zusammen. „Am Welt-Adipositas-Tag wollen wir darauf aufmerksam machen, dass es an der Zeit ist, diesen Teufelskreis der Ignoranz und unterlassenen Hilfeleistung zu durchbrechen und den Krankheitswert des schweren Übergewichts endlich anzuerkennen. Dazu benötigen wir entschlossenes, konzertiertes Handeln seitens der Politik und der Selbstverwaltung: Adipositastherapie muss Kassenleistung werden, langfristig brauchen wir einen nationalen Adipositas-Plan“, fordert Professorin Dr. med. Martina de Zwaan, Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). Zwar nicht ausreichend, aber ein Schritt in die richtige Richtung sei auch die Umsetzung der nationalen Diabetes-Strategie, die zur Prävention des Diabetes Typ 2 erstmals auch eine Regelversorgung der Adipositas vorsieht, so de Zwaan.

„Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit schwerem Übergewicht und die Erwartung, dass sie sich quasi selbst therapieren sollen, gehen Hand in Hand. Erst die Akzeptanz des schweren Übergewichts als chronischer Erkrankung kann endlich den Weg frei machen für die Etablierung medizinischer Versorgungsstrukturen. Hilfesuchende Betroffene müssen im Gesundheitssystem seriöse Hilfe erhalten und dürfen nicht in „graue Märkte“ gedrängt werden, die das langfristige Krankheitsmanagement zusätzlich erschweren“, erläutert DAG-Präsidentin de Zwaan.

„Ein erster Schritt in die richtige Richtung, der noch in dieser Legislatur umgesetzt werden kann, ist die Umsetzung der im Koalitionsvertag verankerten, nationalen Diabetes-Strategie. Zur Vorbeugung von Diabetes Typ 2 ist im Koalitionsentwurf erstmals auch die Etablierung einer Adipositas-Regelversorgung enthalten. Wir appellieren deshalb an die Politiker im Ernährungsausschuss des Bundestages, ihre Blockadehaltung aufzugeben (1, 2) und den Weg frei zu machen für die nationale Diabetes-Strategie incl. Regelversorgung der Adipositas über die Krankenkassen“, so Adipositasexpertin de Zwaan von der Medizinischen Hoch¬schule Hannover.

„Die DAG unterstützt die Forderung nach einer Halbierung des Zuckergehaltes in Erfrischungsgetränken und nach einem Verbot von Werbung für übergewichtsfördernde Lebensmittel und Getränke, die direkt an Kinder und Jugendliche gerichtet ist. Lebensmittel mit Kinderoptik sollten einem gesunden Nährwertprofil entsprechen“, erläutert de Zwaan.

Begründung: Die DAG sehe den Koalitionsvertrag im Hinblick auf die Nationale Reduktionsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertiglebensmitteln noch nicht als erfüllt an, denn die Koalition hatte sich auf „verbindliche Zielmarken“ geeinigt (4), die bislang nicht realisiert worden sind, erläutert de Zwaan.

Im Hinblick auf die Uneinigkeit in der Frage eines geeigneten Nährwertprofils für das Kindermarketing könne als neutrale dritte Option der Nutri-Score weitergedacht werden, der kürzlich politische Rückendeckung in Deutschland bekommen hat. Hier könnte geprüft werdern, nur „grün“ gelabelte Produkte an Kinder zu vermarkten, denn die Bewertungen A und B (dunkelgrün, grün) belegen eine hohe ernährungsphysiologische Qualität, die zukünftig einem Health Claim gleichkommen wird (5)“, so de Zwaan weiter. Eine solche politische Entscheidung auf der Basis des Nutri-Scores könne auch unabhängig von seiner freiwilligen Umsetzung getroffen werden.

Langfristig bedürfe es jedoch eines konzertierten nationalen Adipositas-Plans, um die Adipo-sitas¬epidemie nachhaltig einzudämmen, fasst DAG-Präsidentin de Zwaan zusammen.

Hintergrund

In Deutschland ist derzeit knapp ein Viertel der Bevölkerung von schwerem Übergewicht (Adipositas) betroffenen (6) – um die 19 Mio Menschen. Wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahre haben das Verständnis, wie Adipositas entsteht, grundlegend verändert. Adiposi¬tas wird heute ähnlich wie Diabetes Typ 2 oder Bluthochdruck als chronische Erkrankung klassifiziert. Sie zeigt die Tendenz zu wiederholten Rückfällen (Rezidiven); unbehandelt ver¬schlech¬tert sie sich in der Regel im Zeitverlauf. Charakteristisch ist eine abnormale, exzessive Anreicherung von Körperfett, das zu weiteren Krankheiten führen kann. Mit zunehmendem Körpergewicht erhöht sich das Risiko, Folge-erkrankungen zu entwickeln. Das Vorliegen einer Adipositas ist z.B. der stärkste Risikofaktor für die Entstehung von Diabetes Typ 2 – pro steigendem BMI-Punkt erhöht sich das Diabetesrisiko um 20 Prozent (8). Adipositas gilt als Risikofaktor und Auslöser für mehr als 60 Folgekrankheiten. Diagnostisch lassen sich je nach körperlichen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen und Begleiterkrankungen verschie¬dene Stadien der Erkrankung unterscheiden. Je nach Schweregrad der Adipositas ist die Lebens¬erwartung um bis zu zwölf Jahre verkürzt.

Adipositas ist therapierbar, aber nicht heilbar. Das zu hohe Körpergewicht ist nur teilweise und oft nicht nachhaltig willentlich zu beeinflussen. Durch sehr effektive hormonelle und nervale Regelkreise wehrt sich der Körper gegen eine langfristige Gewichtsabnahme und zeigt die Tendenz, ein einmal erreichtes Höchstgewicht wiederzuerlangen.
Wie andere chronische Erkrankungen (Diabetes Typ 2, Bluthochdruck) verlangt das starke Übergewicht ein lebenslanges Krankheitsmanagement. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft empfiehlt gemäß ihrer wissenschaftlichen Leitlinien ganzheitliche, stadiengerechte und individuell abgestimmte, konservative und chirurgische Therapieansätze. Eine „gesunde“ Adipositas gibt es nicht – Adipositas noch ohne Folgekrankheiten oder körperliche Einschränkungen wird heute medizinisch eher als Vorstufe der Adipositas mit Folgekrankheiten eingestuft.

Für eine effektive und effiziente Prävention von Adipositas rücken heute zunehmend politische Maßnahmen in den Vordergrund (9).

Quellen:

  1. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/108795/Ernaehrungsausschuss-blockiert-nationale-Diabetesstrategie
  2. https://www.aerztezeitung.de/Politik/Diabetesstrategie-steht-vor-dem-Scheitern-405721.html
  3. https://www.adipositas-gesellschaft.de/index.php?id=400&tx_dagmitteilungen_pi1[showUid]=156
  4. Koalitionsvertrag 2018:
    „Für die Nationale Reduktionsstrategie für Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten werden wir 2018 gemeinsam mit den Beteiligten ein Konzept erarbeiten, und dies mit wissenschaftlich fundierten, verbindlichen Zielmarken und einem konkreten Zeitplan versehen.“ S. 89
    https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1
  5. Pers. Mitteilung, BMEL (17.12.2019)
  6. https://diabsurv.rki.de/SharedDocs/downloads/DE/DiabSurv/diabetesbericht2019.pdf?__blob=publicationFile&v=12
  7. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/170/1917012.pdf (04.02.2020)
  8. Aberle, J: Adipositas aus Sicht der Diabetologie –Stellenwert der konservativen und bariatrischen Therapie. https://www.diabetesde.org/system/files/documents/gesundheitsbericht_2020.pdf ,S. 102
  9. Deutsche Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten (DANK) [Hrsg]: Prävention nichtübertragbarer Krankheiten – eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Grundsatzpapier (2016)
    https://www.dank-allianz.de/files/content/dokumente/DANK-Grundsatzpapier_ES.pdf

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