Neue S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter

Früher Therapiebeginn zeigt Erfolge, aber die Versorgung ist mangelhaft

München, 25. Februar 2020 Werden Kinder mit schwerem Übergewicht (Adipositas) bereits im Kindergarten – oder Grundschulalter therapiert, ist die Chance auf eine erfolgreiche Gewichtsstabilisierung bzw. -abnahme gut, so die mutmachende Botschaft der neuen S3- Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter. „Die erreichbaren Therapieeffekte sind zwar gering und entsprechen oft nicht den hohen Erwartungen der Betroffenen. Sie wirken sich aber positiv auf die weitere Gesundheit der Kinder und auf mögliche metabolische, Herz-Kreislauf- sowie weitere Folgeerkrankungen im Erwachsenenalter aus“, so Privatdozentin Dr. med. Susann Weihrauch-Blüher, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). „Besonders für die Adipositastherapie bei Kindern gilt `ambulant vor stationär´ – aber weder die notwendigen Versorgungsstrukturen, noch eine ausreichende Finanzierung sind hierfür gewährleistet. Das muss sich dringend ändern!“, apelliert Privatdozentin Dr. med. Susanna Wiegand, Vizepräsidentin der DAG, an Politik und Krankenkassen. „Kinder brauchen bessere Chancen, gesund aufzuwachsen, damit Adipositas gar nicht erst entsteht. Hier brauchen wir effektivere verhältnispräventive Unterstützung seitens der Politik!“, fordert DAG-Präsidentin Prof. Dr. med. Martina de Zwaan.

Gemäß der Leitlinie sollten Adipositas-Therapieprogramme multimodal aufgebaut sein und den persönlichen Lebensstil der Kinder bzw. deren Familien adressieren. Dazu bieten die meisten Programme eine Kombination aus Bewegungs-, Ernährungs- und Verhaltenstherapie an. Das Hauptproblem: Strukturelle und finanzielle Mängel verhindern eine flächendeckende Umsetzung.

„Die evidenzbasierte neue Leitlinie zeig, dass eine Gewichtsstabilisierung bzw. -reduktion für Kinder und Jugendliche mit Adipositas möglich ist – um so erfolgreicher, je eher mit einer Therapiemaßnahme begonnen wird. Insbesondere die Schulung von Kindern im Grundschulalter mit Beteiligung der Familien zeigt deutliche Effekte.“, so Kinder- und Jugendärztin Weihrauch-Blüher.

„Kinder und Jugendliche können gerade von ambulanten Angeboten gut und nachhaltig profitieren. Es gibt aber zu wenig solcher Therapieplätze, an denen das Kind inmitten von Familie, Schule und Freundeskreis betreut wird“, erläutert Wiegand, Kinder- und Jugendärztin der Adipositasambulanz an der Berliner Charité.

„Wir haben in den letzten 10 Jahren eine massive Erosion von Versorgungsstrukturen erlebt, die auf eine mangelnde Finanzierung von vonseiten der Krankenkassen zurückzuführen ist“, so Wiegand. Eine aktuelle Auswertung des APV-Programms der Universität Ulm der letzten 10 Jahre zeige, dass die Zahl der zertifizierten Schulungszentren von fast 150 auf aktuell 44, und die Anzahl der Adipositasakademien, in denen Adipositastrainer-Zertifikate erworben werden können, von 8 auf 6 zurückgegangen sei. „Dies ist für die ca. 800.000 betroffenen Kinder und Jugendlichen in Deutschland viel zu wenig.“, so Wiegand weiter.

Ein weiteres Problem sei die finanzielle Ausstattung vorhandener Programme bzw. die vertragliche Grundlage mit den Krankenkassen bezüglich der Kostenübernahme, beschreibt Wiegand: „Mit Ausnahme einzelner regionaler Absprachen (z.B. zwischen PAEDNetz Bayern und AOK Bayern) bestehen keine einheitlichen, kostendeckenden, strukturierten Behandlungsverträge. Die Kostenübernahme der Krankenkasse muss somit in der Regel für jeden einzelnen Patienten individuell beantragt werden, was für viele Therapieanbieter eine erhebliche bürokratische, zeit- und kostenintensive Hürde darstellt“.

„Wir benötigen bundesweit Schulungsangebote für Kinder und ihre Familien. Die Leitlinie betont, dass allen Betroffenen der Zugang zu einem Schulungsprogramm ermöglicht werden sollte. Dies gilt auch für den ländlichen Bereich, in dem die Adipositas häufiger vorkommt als in der Stadt. Die Einrichtung solcher Programme und deren Durchführung sollte in enger Zusammenarbeit mit den Krankenkassen erfolgen“, fordert auch Prof. Dr. med. Martin Wabitsch, einer der federführenden Leitlinienautoren. Eine besondere Problemgruppe seien die Jugendlichen, so Wabitsch weiter: „Bei Jugendlichen mit extremer Adipositas liegt die Erfolgsrate deutlich niedriger als bei jüngeren Kindern. Für diese spezielle Gruppe von jungen Patienten benötigen wir neue Therapiekonzepte!“.

Die neue S3-Leitlinie fasst außerdem zusammen, dass das Ausmaß der Adipositas im Kindes- und Jugendalter maßgeblich durch den Lebensstil unserer Gesellschaft und die zu wenig gesundheitsförderliche Gestaltung unserer Lebens-, Arbeits- und Freizeitwelten bedingt ist: „Damit Kinder und Jugendliche in Deutschland gesund aufwachsen können und überhaupt die Chance haben, zu einem gesunden Lebensstil zu finden, sind tiefergreifende gesellschaftliche Veränderungen erforderlich, für die eine starke politische Unterstützung notwendig ist.
Die „Schuld“, an einer Adipositas zu erkranken, hat nicht das Individuum, also das Kind, dessen Eltern oder Sorgeberechtigten, sondern liegt vielmehr in unserer `adipogenen´ (übergewichtsfördernden) Lebenswelt, die der Einzelne willentlich nur begrenzt beeinflussen kann“, resümiert DAG-Präsidentin de Zwaan.

Hintergrund

40 Expertinnen und Experten aus 16 medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, Berufsverbänden und weiteren Organisationen erarbeiteten gemeinsam die seit Ende 2019 verfügbare Leitlinie höchster wissenschaftlicher Qualität („S3“)1. Sie stellt für Behandler des krankhaften Übergewichts bei Heranwachsenden wissenschaftlich überprüfte Empfehlungen bereit. Federführende Autoren für die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) sind Prof. Dr. med. Martin Wabitsch und Dr. Anja Moß, AWMF-Leitlinienassistentin.

Die zweite Auswertungswelle des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) bestätigte: aktuell haben 15,4 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3-17 Jahren Übergewicht, 5,9 % davon haben schweres Übergewicht (Adipositas). Trotz intensiver Aufklärung und zahlreicher Präventionsmaßnahmen konnte die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas seit der ersten Auswertungswelle in den Jahren 2003-2006 nicht gesenkt werden2 . In Deutschland leben aktuell 800.000 Kindern und Jugendlichen mit Adipositas.

Quellen:

  1. S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen:
    https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/050-002.html
  2. KiGGSs-Studie,Welle 2:
    https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_01_2018_Adipositas_KiGGS-Welle2.html

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